Doch wenn ein Glaube versinkt, so überlebt ihn -
und sogar stärker, um besser zu vertuschen,
dass wir die Macht, auch den neuen Dingen Wirklichkeit
zu verleihen, eben verloren haben - eine fetischistische
Anhänglichkeit an jene alten Dinge, die er zu beseelen
vermocht, als habe in ihnen und nicht in uns
das Göttliche gewohnt ...
Marcel Proust, In Swanns Welt
Warum, fragte Arno Schmidt, deutscher Dichter der Nachkriegszeit, kann man andere Menschen nicht an sein Gehirn anschließen, dass sie dieselben Bilder und Erinnerungen sehen wie man selbst? Heute, nur fünfzig Jahre nachdem Schmidt seinem Wunsch nach Vernetzung Ausdruck verliehen hat, scheint der allgemeine Zugriff auf Erinnerung und Erfahrung alltäglich und der Umweg über das menschliche Gehirn obsolet geworden. In einer Zeit, in der die Medien immer perfektere Bilder der uns umgebenden Wirklichkeit liefern, ist auch die Kreativität und Imaginationskraft des menschlichen Erinnerungsvermögens weitgehend durch einen Pool fotografischer oder digitaler Bilder ersetzt. Medial erzeugte Bilder, die sich in rasch wechselnden Folgen ablösen, überlagern die individuellen Erinnerungen und Vorstellungen. Zugleich lässt die Progression der Bilder die Fähigkeiten, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren sowie ein kohärentes Bezugssystem auszubilden, verkümmern. Realität wird für die Computergeneration kaum noch etwas anderes sein als über Fotoreproduktionen, Fernsehen, Video und Computersimulationen vermittelte Erfahrung.
Die Kunst ist Teil der umfassenden Medienkultur geworden; sie hat Gegen- und Subkultur in sich aufgesogen. Ungeniert bedient sie sich aus dem großen Pool der Bilder. Elemente aus Werbung, Mode und Lifestile, Musik usw., die früher nicht zu ihrem Einzugsbereich gehörten, werden aus ihrem Kontext gelöst und die Versatzstücke zu neuen Bildordnungen verschmolzen. Auch die Computerprints von Peter Freitag schöpfen aus dem Fundus der öffentlichen Bilder. Der Künstler arbeitet mit vorgefundenen Abbildungen aus Werbebroschüren gängiger Reiseveranstalter und bearbeitet sie digital am Computer.
Abbildungen von Ferienparadiesen, wie wir sie in Reisekatalogen finden, sind längst zum Klischee erstarrt und haben sich beliebig austauschbar in unseren Gedächtnissen abgelagert. Die kleinformatigen Werbefotos zeigen heitere Scheinwelten, über die das Auge, ohne hängen zu bleiben, rasch hinweggleitet. Meist bieten die Abbildungen Einblicke in Hotelzimmer, in denen Menschen in Gemeinschaft einfachen Tätigkeiten nachgehen, die wir mit Freizeit assoziieren. Die Protagonisten liegen auf dem Bett, lesen oder trinken etwas, sitzen beim Essen oder spielen mit den Kindern. Die Szenen vermitteln den Eindruck von Glück und Zufriedenheit und befriedigen die menschliche Sehnsucht nach Harmonie. Die Botschaft ist eindeutig, klar und ohne Widersprüche. Die abgebildeten Dinge scheinen ihre Bedeutung aus sich heraus zu schöpfen. Ziel der Abbildungen in den Katalogen ist es, dem potentiellen Kunden eine positive Vorstellung vom Urlaubsort, Quartier, Strand oder Swimming Pool zu vermitteln, um ihn zum Kauf einer Reise zu animieren.
Um so erstaunlicher ist es, wenn wir Bildern dieser Art im Kunstkontext wieder begegnen und mehr noch, es ihnen gelingt, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Was macht solche Bilder für den Kunstkontext interessant?
Auf den ersten Blick sind die Eingriffe des Künstlers in die Vorlagen kaum ersichtlich, da die Oberflächen der Bilder nach wie vor homogen wirken. Das Entscheidende ist, dass Peter Freitag alle beweglichen Gegenstände, wie Gläser, Bücher, Spielzeug, Geschirr, mit denen sich die Figuren ursprünglich beschäftigt haben, aus den vorgegebenen Szenen tilgt. Nur die Menschen, Räume und ein Basismobiliar bleiben übrig. An den entstandenen Fehlstellen wird der jeweilige Hintergrund hineinkopiert. Zudem treten die Bilder als Serie auf, sind um ein Vielfaches vergrößert und farblich in ihren Kontrasten verstärkt. Die Rasterpunkte, ein deutlicher Hinweis auf die gedruckte Vorlage, bleiben sichtbar oder werden bei der digitalen Bearbeitung am Schluss einheitlich über die Bilder gelegt.
Die Szenen in Reisebroschüren, die Menschen am Pool, im Hotelzimmer oder beim Frühstück zeigen, dokumentieren keine Reisen, die stattgefunden haben. Es sind meist mit typisierten Modellen nachgestellte Situationen, die eine heitere, entspannte Urlaubsatmosphäre lediglich vortäuschen. Hotelzimmer sind immer Bühnen vergleichbar, auf denen wir uns mit den vorhandenen und mitgebrachten Requisiten als Reisende inszenieren. Während jedoch Urlaubsfotos in der Regel die Fülle dessen bewahren sollen, was man erlebt und gesehen hat, bieten die für den Katalog gestellten Fotos uns mit bewunderungswürdiger Ökonomie gerade so viel an, wie notwendig ist, um unsere Erwartung einer idyllischen Urlaubsszenerie einzulösen. Sie bieten einfach konstruierte, emotional befriedigende Grundsituationen, bedienen sich konservativer Rollenklischees und kommen mit wenigen Schlüsselrequisiten aus. Diese erleichtern es uns, die gängigen Konstellationen wiederzuerkennen. Denn die Inszenierungen machen sich den Umstand zu nutze, dass wir Dinge, Bilder, Situationen im alltäglichen Umgang nicht explizit wahrnehmen, sondern sie lediglich oberflächlich streifen, um sie mit dem, was wir wissen, zu vergleichen. Um ein Wiedererkennen zu ermöglichen, genügen daher meist wenige, gezielt ausgewählte optische Anhaltspunkte.
Die Abbildungen der Kataloge bieten sich als Vorlagen unter anderem deshalb an, weil sie mit geringem Aufwand realisiert wurden. Nimmt man aus den sparsam inszenierten, rein auf das Wiedererkennen ausgerichteten Bildern ein Element - wie in diesem Fall die Dinge - heraus, bricht der Anschein von Realität in sich zusammen. Die Ordnung der Dinge ist gestört. Das Bezugssystem der Bilder geht verloren. Ohne die belebende Anwesenheit der Gegenstände, mit denen die Figuren ursprünglich befasst waren, erstarrt das übrige Mobiliar zu Kulissen. Die Räume gleichen leeren Bühnen, auf den die Figuren ausgesetzt sind und scheinbar isoliert voneinander agieren.
Der Eindruck von Verlorenheit oder gestörter Kommunikation wird durch den Umstand verstärkt, dass die Aufmerksamkeit der Figuren in den Vorlagen ursprünglich auf die Gegenstände und nicht auf die anderen Menschen im Raum gerichtet war. Nimmt man die Gegenstände heraus, laufen die Blicke ins Leere, während der Betrachter automatisch die sinnentleerten Gesten und Handlungen der Figuren aufeinander bezieht und zu deuten versucht. Es entsteht Verwirrung zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wissen.
Die neuen atmosphärischen Momente von Entfremdung, die wir aus den Bildern herauslesen, sind keine Eigenschaft des Figurenpersonals. Sie könnten nur dann von ihnen ausgehen, wenn die abgebildeten Personen eine stimmige Identität hätten. Eine solche ist aber nicht gegeben, da die Darsteller der inszenierten Katalogfotos typisierte Modelle sind, die sich uns lediglich als Projektionsflächen anbieten. Sie treten als Platzhalter oder Identifikationsfiguren auf, wie auch die Gegenstände eher allgemein für Freizeitbeschäftigungen stehen.
Die psychologische oder soziologische Interpretation der Situation ist eine kreative Leistung, die der Betrachter erbringt, indem er versucht, die disparaten, ihm rätselhaft erscheinenden Situationen zu deuten. Obwohl die Gesichter und Räume auf die Vorlage bezogen unverändert bleiben, partizipieren die Bilder durch das Aufeinanderprallen verschiedener Codes, die kein stimmiges Bild mehr ergeben, an psychologischen oder gesellschaftlichen Phänomenen wie Isolation und Gemeinschaft, Einsamkeit, Sexualität und Kommunikation, die der Betrachter hineinliest. Der Künstler erzeugt durch die Manipulation einen Mangel, der wie ein Spalt durch das Bild verläuft und unserer Vorstellung als Aufhänger dient. Der Betrachter registriert die Leerstellen intuitiv und beginnt unwillkürlich, sie mit eigenen Ideen und Vorstellungen zu füllen.
Peter Freitags Bilder leisten insofern Forschungsarbeit, als der Künstler nicht nur an der Oberfläche der Bilder kratzt, sondern in die Bilder eindringt und ihren Bedeutungsraum erfahrbar macht, indem er ihn verändert. Seine subtilen Bearbeitungen legen Bilder hinter den Bildern frei, die imstande sind, unseren Blick zu fesseln. Ursprünglich eindeutig in ihren Erscheinungsweisen, Motiven, Zielen und Kontexten gewinnen die Werbefotos durch die Eingriffe des Künstlers neue ikonographische Qualität. Die manipulierten Prints bilden keinen definitiven Sachverhalte mehr ab. Die Bilder wirken wie Stills aus einem größeren Zusammenhang, ohne eine Deutung dessen, was sie zeigen, mitzuliefern. Auf diese Weise zwingen uns die Arbeiten innezuhalten, ohne dass sie durch die Erkenntnis, wie sie entstanden sind, ihre Faszination einbüßten. Ihre Stärke ist ihre Ambivalenz; die Bildaussage bleibt offen. Man kann alles Mögliche in die Situationen hineinlesen. Sie legen Geschichten nahe, die es scheinbar zu rekonstruieren, tatsächlich aber zu erzählen gilt.
Ohne die ursprüngliche Ordnung der Dinge lassen sich die Bilder nicht mehr einfach konsumieren. Die psychologischen Dramen, denen man auf der Spur zu sein glaubt, finden im Bild keine Lösung. Die neuen Bildsituationen provozieren daher ein sich allmählich vorantastendes, forschendes Sehen, das zu einem ständigen Abgleich bereits bekannter Bildtypen mit den neuen, rätselhaften Szenen führt. Nur allmählich erschließen sich Herkunft, Qualität und spezifische Intention des Ausgangsmaterials sowie sein Stellenwert im Kontext der Bearbeitung. Im Wechsel mit der Wahrnehmung des Anderen, der neuen Sicht auf Personal, Räume und Situationen oder der Diagnose psychologischer und gesellschaftlicher Befindlichkeiten entstehen neue Bezugssysteme. Eine zentrale Frage, die sich aufdrängt, ist die, wessen Spiel hier eigentlich gespielt wird.
Die Beschränkung des Künstlers auf Abbildungen aus Reiseprospekten ist nicht willkürlich. Man könnte sich aber auch andere Themengruppen vorstellen. Dennoch bieten gerade die bereits in hohem Maß typisierten, klischeehaften und reduzierten Abbildungen in den Reiseprospekten, die Möglichkeit, durch geringe Manipulationen, Bildordnungen zu stören, emotionale Grundsituationen zu verändern und dadurch die Funktionsweise von Bildern bewusst zu machen. Vorgeführt wird nicht die völlige Beliebigkeit der Bilder im Medienzeitalter, ihre Manipulierbarkeit oder die Austauschbarkeit dessen, was sie zeigen. Vielmehr machen die Bilder von Peter Freitag bewusst, wie dünn die Grenze ist, die zwischen Realität, Reproduktion und Fiktion verläuft und wie sehr die Produktion öffentlicher Bilder Sehnsüchte des Betrachters bedient.
Peter Freitags Computerprints stehen der Malerei näher als der Medienkunst. Obwohl die Bilder ihre Entstehung den Möglichkeiten des Computers verdanken, scheinen sie eher gegen als mit dem Strom elektronisch erzeugter Bilder zu schwimmen. Weder geht es dem Künstler darum, aktuelle elektronische Trends zu bedienen, noch um eine Kritik der Medienkultur. Vielmehr treten die Arbeiten den Beweis an, wie sehr die Malerei als traditionelle Kunstgattung der Neudefinition und Öffnung gegenüber den neuen Technologien bedarf. Gemalten Bildern vergleichbar strahlen sie in erster Line Ruhe aus. Sie erzeugen einen intimen Raum, in den der Betrachter eingeladen ist, ihr Mysterium zu ergründen. Zudem reflektieren sie, wie es der Malerei seit der Moderne entspricht, ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten und animieren zu einem analytischen Umgang mit dem Bild. Zum einen weil Konzept und Entstehungsprozess offen liegen und rekonstruierbar sind, zum anderen aber weil paradoxerweise das Rätsel ihrer Wirkung letztlich davon unberührt bleibt.
"Malerei ist der visuelle Ort, an den der Betrachter beliebig oft - ohne Rückspulen, Schnelldurchlauf oder Repeat-Taste - zurückkehren kann", war kürzlich in einem Kunstmagazin zu lesen. In diesem Sinne laden die Bildräume Peter Freitags ein, zu verweilen und zu ihnen zurückzukehren. Ohne einen zweiten Blick sind Erinnern, Erkenntnis wie auch die Möglichkeit, im Sinne Prousts "den neuen Dingen Wirklichkeit zu verleihen", nicht vorstellbar.